Menschsein.
Bregenz, 02.06.2020. Nicht alle Menschen sind eindeutig weiblich oder eindeutig männlich. Darum unterstützt plan:g – Partnerschaft für globale Gesundheit den offenen Brief des Vereins intergeschlechtlicher Menschen Österreichs an Bundesminister Karl Nehammer.
Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hatte am 15. Juni 2018 der Klage von Herm Alex Jürgen* stattgegeben: Österreich muss neben „männlich“ und „weiblich“ einen dritten Geschlechtseintrag schaffen. Teil des türkis-grünen Regierungsprogramms ist es, die VfGH-Erkenntnis (G-77/2018) tatsächlich umzusetzen. Denn der bestehende „Kickl-Erlass“ ist so restriktiv, dass intergeschlechtliche Menschen weiter diskriminiert werden.
Pfr. Edwin Matt, Kuratoriumsvorsitzender von plan:g – Partnerschaft für globale Gesundheit verweist dazu auf die Verfolgungssituation in Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit und auf die Diskriminierung auch in Österreich. Und er verweist auf die Bibel: „Die genaue Lektüre der Bibel, des göttlichen Wortes in Menschenwort, verunmöglicht die Verachtungs- und Diskriminierungsgeschichte nicht-binären Seins.“ Die empirische Beobachtung von Intergeschlechtlichkeit stehe im Einklang mit dem christlichen Glauben und mit christlichen Texten. Gott schuf den Menschen nicht als Mann und Frau. Gott schuf den Menschen als „männlich und weiblich, nach seinem Ebenbild“ (Gen 1, 5).
Dazu Matthias Wittrock, plan:g-Geschäftsführer: „Die pastorale, medizinische und politische Praxis muss mit der theologischen, natur- und sozialwissenschaftlichen Forschung Schritt halten.“
Pfarrer Matt verweist darauf, dass die Vielfalt in der Schöpfung und im menschlichen Leben mit all ihren komplexen Formen gerade im religiösen und christlichen Verständnis, das die Einheit zwischen Körper und Geist auch spirituell versteht und sich um eine ganzheitliche Anthropologie bemüht, eine große Chance für notwendige kirchliche Entwicklung sei: „Christsein bedeutet, sich auf Andere in ihrer Andersartigkeit einzulassen. Das ist eine missionarische Kirche im Sinne einer Kirche, die ihrer Mission treu bleibt und Verfolgungsgeschichte beendet.“
Offener Brief an Innenminister Nehammer
Sehr geehrter Bundesminister Karl Nehammer,
sehr geehrte Mitarbeiter*innen des BMI,
im Juni 2018 wurde vom Verfassungsgerichtshof anerkannt, dass es einen dritten Geschlechtseintrag für jene Menschen geben soll, die sich nicht als Mann oder Frau identifizieren. Im Dezember 2018 wurde daraufhin ein Erlass ausgegeben, in dem das Vorgehen bei derartigen Personenstandsänderungen geregelt ist. Dieser Erlass ist jedoch äußert restriktiv gestaltet, was dazu führt, dass tatsächlich bereits viele Menschen in den Standesämtern abgewiesen wurden.
Anspruch auf die dritte Option haben demnach aktuell nur jene Personen, die mit medizinischen Gutachten eine Variante der Geschlechtsentwicklung belegen können - obwohl der VfGH im Juni 2018 klargestellt hat, dass Menschen nur „jene Geschlechtszuschreibungen durch staatliche Regelung akzeptieren müssen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen.“ Im Februar 2020 gab es überdies eine weitere Entscheidung des LVwG OÖ, das den Erlass als nicht bindend sowie den Eintrag „inter“ für Alex Jürgen bestätigt, zusätzlich zur Option „divers“.
Laut dem aktuellen Regierungsprogramm gibt es einen Konsens darüber, dass das entsprechende VfGH-Erkenntnis (G-77/2018) umgesetzt - also eine neue Regelung getroffen werden soll. Ihre Beantwortung der parlamentarischen Anfrage der NEOS am 14. April erzeugte deshalb großen Unmut in der Community.
Daher möchten wir als Vertreter*innen diverser Organisationen, die sich gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsmerkmalen oder Geschlechtsidentität aussprechen, gemeinsam mit selbst betroffenen Personen unser Anliegen auch an dieser Stelle noch einmal klar artikulieren:
- Der dritte Geschlechtseintrag soll allen Menschen offenstehen, unabhängig ihrer individuellen körperlichen Geschlechtsmerkmale. Vom VfGH gab es diesbezüglich schon 2009 ein entsprechendes Erkenntnis, im Fall einer Transgender Person, in dem klargestellt wurde, dass der Geschlechtseintrag die Geschlechtsidentität und nicht körperliche Merkmale repräsentiert.
- Neben den bisher möglichen Einträgen “weiblich”, “männlich”, “offen” und “divers” muss auch der Eintrag “inter” zur Verfügung stehen.
- Die Regelung bezüglich eines medizinischen Expert*innenboards (sog. VdG-Board) ist überflüssig und zu streichen – eine Änderung nach Selbstauskunft beim Standesamt muss ausreichen. Das VdG-Board war ursprünglich vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz bzw. der dortigen Arbeitsgruppe für Behandlungsempfehlungen bei VdG als Expertise-Netzwerk für Diagnostik, Beratung und Behandlungsentscheidungen angedacht. Dies sollte auch die Kompetenz des Boards bleiben - die beteiligten Mediziner*innen sollten dagegen nicht plötzlich eine zweckentfremdete Funktion für Personenstandsangelegenheiten ausüben. Darüber hinaus existiert dieses Board de facto nicht - der Erlass verweist auf bloße Kontaktdaten einer (unvollständigen) Liste von Versorgungsstrukturen, und eben nicht auf das sog. VdG-Board.
- Bürokratische Hürden zur Änderung des persönlichen Geschlechtseintrags müssen abgebaut werden. Gleichzeitig braucht es strenge Datenschutzmodalitäten für frühere Geschlechtseinträge.
- Der Geschlechtseintrag einer Person muss mehr als einmal gewechselt werden können. Dies soll nicht einem möglichen Missbrauch dienen, sondern der Tatsache Rechnung tragen, dass sich das Empfinden der Geschlechtsidentität im Laufe eines Lebens (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter) verändern kann. Die psychische und physische Entwicklung eines jeden Menschen zeigt sich erst im Aufwachsen, kann unterschiedlich lange dauern und ist nicht vorhersehbar. Bis zur Entscheidung, einen Geschlechtseintrag berichtigen zu lassen, durchlaufen Betroffene in der Regel meist lange persönliche Prozesse.
Betroffene Personen brauchen einen Eintrag, der ihrer Identität entspricht und nicht ihre Körperlichkeit medizinisch begutachtet und diagnostiziert.
Wir fordern einen selbstbestimmten dritten Geschlechtseintrag!
- Eine intergeschlechtliche Person über die Sprache der Schöpfung in der Genesis: „Als Mann und als Frau schuf er sie – Adam ist menschlich.“
- Die VfGH-Entscheidung zum Nachlesen: „Intergeschlechtliche Personen haben Recht auf adäquate Bezeichnung im Personenstandsregister.“
- Ein Film berichtet über Intergeschlechtlichkeit: Tintenfischalarm.
- Herm Alex Jürgen schreibt Rechtsgeschichte.
- Der verein intergeschlechtlicher menschen österreich vimoe informiert über „was tun, wenn mensch anders ist“.
- Die Plattform Intersex ist ein unabhängiges Netzwerk aus NGOs, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen. Die 2013 gegründete Plattform will die Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen verbessern.
- Ein Leitfaden für Kinder ohne eindeutiges Geschlecht hat das Ziel, unnötige Operationen zu vermeiden.
- Dieser Leitfaden ist jedoch schlecht vereinbar mit den Erfahrungen betroffener Menschen, wie eine Studie zu Genitaloperationen im Kindesalter belegt.
- „Nichts über uns ohne uns!“ ist eine zentrale Forderung von VIMÖ / OII, exzellent zusammengefasst in der Info-Broschüre „Die Menschenrechte intergeschlechtlicher Menschen schützen. Wie können Sie helfen?“