40 Jahre Alma-Ata und die 2018er Astana-Erklärung: Primäre Gesundheitsversorgung im Fokus
1978 war nicht nur das Jahr des Wunders von Córdoba, in dem Krankl das 3:2-Tor der Weltmeisterschaft gelang. Auf einem ganz anderen Spielfeld gelang in Alma-Ata ein Entscheidungstreffer für die Anerkennung und Förderung des Menschenrechts auf Gesundheit, der bis heute wirkt.
Mit der Alma-Ata-Erklärung, unterzeichnet von 134 Ländern und 67 internationalen Organisationen, wurde die Rolle der primären Gesundheitsversorgung in den Mittelpunkt gestellt. Die primäre Gesundheitsversorgung ist die erste Stufe der lokalen Gesundheitsversorgung. Das in Alma-Ata verabschiedete „Gesundheit für alle“-Programm der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) forderte eine Umorientierung der Gesundheitsdienste. Der Schwerpunkt des Gesundheitssystems sollte auf die primäre Versorgung gelegt werden. Und nicht in oft weit entfernt liegende Medizin-Zentren oder teure Spezialprogramme für einzelne Krankheiten (Vertikalprogramme).
Viele der Forderungen von Alma-Ata sind so aktuell wie eh und je. Und das nicht nur im globalen Süden: Auch in Österreich haben die Menschen einen Anspruch darauf, dass die medizinische und pflegerische Versorgung in allen Landesteilen gesichert ist. Das gilt auch für ländliche Regionen.
Das in der Erklärung gesteckte Ziel „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“ zu erreichen, basierte auf den drei Prinzipien (1) des universellen Zugangs, (2) der Gemeinschaftsbeteiligung und (3) der Selbstbestimmung. Gleichzeitig wurde die große Ungleichheit der Gesundheitssituation zwischen und innerhalb von Staaten als politisch, sozial und wirtschaftlich unakzeptabel angeprangert. Die Umsetzung der primären Gesundheitsversorgung, wie sie in der Erklärung definiert wurde, sollte durch die Stärkung der Gesundheitssysteme weltweit erreicht werden. Das Ziel wurde nicht erreicht. Aber die Prinzipien bleiben gültig und sinnvoll.
Die jeweiligen Staaten wurden zur Umsetzung des Alma-Ata-Programms verpflichtet. Faktisch wurde die Funktion des Staates als „Pflichtenträger“ (duty bearer) im Bereich der Gesundheit festgeschrieben; die Menschen sind „Rechtehalter“ (rights holders). Diese Verteilung von Pflichten des Staates und Rechten der Einzelnen ist ein zentrales Element des Menschenrechtsansatzes. Er trägt zur sozialen Gerechtigkeit bei: Das Menschenrecht auf Gesundheit sichert den Menschen den Zugang zu Präventionsmaßnahmen und zu Gesundheitseinrichtungen und ermöglicht so ein sozial und wirtschaftlich produktives Leben.
Die Alma-Ata-Erklärung wurde zeitweise enthusiastisch gefeiert. In anderen Phasen geriet sie in fast völlige Vergessenheit. Ein wichtiger Grund: Für große Geberorganisationen und Staaten ist es einfacher, sich um die Überwindung von einzelnen Krankheiten in Vertikalprogrammen zu kümmern, als mühsam in die Verbesserung der Qualität des Gesundheitssystems insgesamt zu investieren. Ein modernes Klinikum in der Hauptstadt ist sichtbarer als viele kleine Gesundheitsstationen auf dem Land. Die Kontrolle der Eliminierung der Lepra in einem Staat ist ein viel einfacherer und sichtbarerer Erfolg als die Prävention der Diabetes. Gerade bei der Diabetes-Prävention wird deutlich, dass Gesundheit ein Politikum ist: Bei der Diabetes geht es um die Auseinandersetzung mit der Zuckerindustrie. Es geht nicht darum, verschiedene Betroffenengruppen gegeneinander auszuspielen. Aber ein Gesundheitssystem, das stark genug ist, mit Ursachen und Auswirkungen der Herz-Kreislauf-Erkrankungen umzugehen, ist stark genug, um die Eliminierung der Lepra zu erreichen.
In die Kritik geriet die Alma-Ata-Erklärung auch, weil es verglichen mit der Logik von Vertikalprogrammen weder konkrete Ziele noch einen nachvollziehbaren Umsetzungsplan gab. Die Erklärung wurde als unrealistisch, idealistisch und zu breit angelegt schlechtgeredet. Allerdings sind die sozio-kulturellen und ökonomischen Unterschiede zwischen den Staaten der Erde so unterschiedlich, dass es gar keinen einheitlichen Plan geben kann. Viele verschiedene Umsetzungspläne sind nötig: In einem Industrieland kann die Orientierung an der Primärversorgung bedeuten, die Ansiedlung von Ordinationen auf dem Land steuerlich zu begünstigen oder ein öffentliches Rauchverbot konsequent umzusetzen. In anderen Zusammenhängen macht es Sinn, Hebammen zu erlauben, Medikamente zu verschreiben.
Viele dieser Veränderungen müssten politisch gestaltet werden. Das ist mühsam. Darum drängte die Politik auf schnell wirksame Lösungen und auf klare und messbare Erfolge, um Ursachen von Tod und Krankheit zu reduzieren. Denn solche Erfolge ermöglichen die politische Legitimation von Herrschaft.
Vor allem weil die hohe Kindersterblichkeit politische Herrschaft bedrohte, rückte sie in den Mittelpunkt der Bemühungen. Zu oft ging es aber nicht um die nachhaltige Verbesserung der Situation, sondern ausschließlich um Nothilfe. Arbeit zur Senkung der Kindersterblichkeit beschränkte sich auf die Wachstumsüberwachung, auf die orale Zufuhr von Wasser oder Salzlösungen sowie auf Still- und Impfkampagnen (growth monitoring, oral rehydration, breast-feeding, immunization; GOBI). Der Ansatz wurden einerseits als selektiv und dadurch oft wenig nachhaltig kritisiert, andererseits ergänzten sie das Konzept der besseren Primärversorgung durchaus und waren im Hinblick auf die genauere Betrachtung sozialer Determinanten der Gesundheit wegweisend für die Gesundheitsplanung. GOBI wurde erweitert: zunächst nur um Nahrungsergänzung, dann um die Alphabetisierung von Frauen und um Familienplanung (food supplements, female education, family spacing; GOBI-FFF).
Die globale Gesundheitssituation hat sich in den letzten 40 Jahren stark verändert. Aufgrund der Urbanisierung und völlig veränderter Ernährungsgewohnheiten sind die nichtübertragbaren Krankheiten (non-communicable diseases, NTDs) weltweit zu einer sehr großen Herausforderung geworden. Auch politisch hat sich viel verändert: Alma-Ata heißt jetzt Astana und liegt längst nicht mehr in einem sozialistischem Staat.
Im Oktober 2018 wurde mit der „Globalen Konferenz zur primären Gesundheitsversorgung“ in Astana, Kasachstan, das Bekenntnis der Weltgemeinschaft zur primären Gesundheitsversorgung gestärkt. Die Weltgemeinschaft hat ihre Verpflichtung zu den Werten und Prinzipien der Alma-Ata-Erklärung erneuert. Dabei wurde ein Schwerpunkt auf Gerechtigkeit und Solidarität gelegt. Die Bedeutung der Gesundheit für Frieden, Sicherheit und sozioökonomische Entwicklung wurde betont.
Gesundheitssysteme müssen sich neuen Herausforderungen stellen. Dazu gehört in großem Maße die wachsende Belastung durch nichtübertragbare Krankheiten, aber auch Krankheitsausbrüche und globale Gesundheitsrisiken wie antimikrobielle Resistenz und in sehr schnell wachsendem Ausmaß die enormen Auswirkungen des Klimawandels.
Die primäre Gesundheitsversorgung ist weiterhin der zentrale Pfeiler der universellen Gesundheitsversorgung. Das kommt auch im nachhaltigen Entwicklungsziel 3 zum Ausdruck („Gesundheit und Wohlergehen für alle“; Sustainable Development Goals, SDGs). Es bleibt das Ziel, allen Menschen den gerechten Zugang zu qualitativ hochwertiger und effektiver Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, ohne dass der Nutzen dieser Dienstleistungen die Menschen in finanzielle Not stürzt (universal health coverage – also die flächendeckende Gesundheitsversorgung mit einer allgemeinen Krankenversicherung).
Zur Stärkung von Gesundheitssystemen sollen in den kommenden Jahren vier, in der Vergangenheit vernachlässigte, Schwerpunkte gesetzt werden: (1) die Wissens- und Kapazitätenentwicklung in der primären Gesundheitsversorgung; die (2) garantierte Verfügbarkeit von geschultem Gesundheitspersonal, auch in ländlichen und entfernt gelegenen Gebieten, das angemessen vergütetet und motiviert ist (in vielen Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit ist brain drain, also die Abwanderung von qualifiziertem Personal, eine große Herausforderung); vor dem Hintergrund der Digitalisierung ist (3) die Verfügbarkeit von Technologien unverzichtbar (dazu gehören Gesundheitsinformationssysteme zur Datensicherung und Evaluation von Gesundheitsleistungen und -systemen sowie qualitativ hochwertige, sichere, effektive und bezahlbare Medikamente); last but not least ist (4) die effektive Finanzierung von primären Gesundheitsleistungen durch die Etablierung von nationalen (Versicherungs-)Systemen nötig.
Noch muss sich zeigen, inwiefern die Verpflichtung zu den neuen Zielen und Schwerpunkten die Lage der Gesundheit der Menschen in vielen Ländern verbessern wird. Sowohl Industrie- als auch Entwicklungsländer kämpfen mit ihren jeweils eigenen Herausforderungen, doch es ist klar, dass die Astana-Erklärung die richtigen Prioritäten setzt.
Den Weg dazu hat die Alma-Ata-Erklärung von 1978 gewiesen: Sie bleibt einer der bedeutendsten Meilensteine auf dem Weg zur Gesundheitsversorgung für alle, sowohl in den Industriestaaten als auch in den Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit im globalen Süden.